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Erhitzt, Vernebelt, Umstritten: Tabakprodukte im Wandel

by Michael Blaser
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Eine neue Rauchgewohnheit breitet sich aus

Ein neuer Tabaktrend erobert die Welt, doch seine gesundheitlichen Folgen bleiben unklar.
Ben Taylor, freiberuflicher Autor und IT-Berater, rauchte seit seinem 13. Lebensjahr fast drei Jahrzehnte.
Er versuchte, mit dem Dampfen aufzuhören, doch E-Zigaretten konnten ihn nie vollständig zufriedenstellen.
Neugierig testete er IQOS, ein schlankes Gerät, das Tabak nicht verbrennt, sondern erhitzt.
IQOS stammt vom US-Konzern Philip Morris International (PMI) und erzeugt Dampf statt Rauch.
Für Taylor ähnelte das Erlebnis eher dem Rauchen als das Dampfen es tat.
Er mochte, dass echtes Tabakmaterial verwendet wurde und der übliche Zigarettengeruch ausblieb.
Er berichtete zudem, dass sein chronischer Husten verschwand, seit er IQOS nutzte.

Gesundheitsversprechen der Industrie versus ärztliche Warnungen

Tabakkonzerne bewerben erhitzte Produkte als weniger schädlich als Zigaretten.
Dabei stützen sie sich auf eigene Studien, die niedrigere Schadstoffwerte zeigen.
Unabhängige Fachleute warnen jedoch, dass auch diese Geräte Risiken bergen.
Sie kritisieren die fehlende Langzeitforschung zu gesundheitlichen Auswirkungen.
Trotzdem sind diese Produkte weltweit in mehr als 60 Ländern erhältlich, besonders in Japan und Italien.
Auch in den USA expandieren sie, beginnend mit einer Markteinführung in Austin, Texas.

Vom gescheiterten Prototyp zum Lifestyle-Gadget

Die Idee ist nicht neu: Schon 1988 versuchte RJ Reynolds, ein ähnliches Produkt zu etablieren.
Damals scheiterte der „Premier“ nach sechs Monaten wegen schlechter Rückmeldungen.
Heute erhitzen moderne Geräte Tabaksticks, -kapseln oder -plugs elektronisch.
Marken wie IQOS, Ploom (JTI) und glo (BAT) setzen auf stylisches Design und Millionenbudgets.
Prominente bewarben die Produkte bei Launch-Partys in Europa und Asien.
Auch Modepartnerschaften und Social-Media-Kampagnen zielen auf Lifestyle und Image.

Noch selten in den USA, doch der Durchbruch naht

In den USA kennen nur 8 % der Erwachsenen diese Produkte, nur 0,5 % haben sie genutzt.
2019 gab die FDA eine erste Zulassung für IQOS, 2020 wurde sie erweitert.
Jetzt ist das Produkt in Texas zurück und könnte bald landesweit starten.
PMI wirbt mit einem „rauchfreien“ Ziel und nennt 22 Millionen Menschen, die Zigaretten aufgegeben haben.

Kritiker warnen vor Jugendmarketing und Doppelkonsum

Experten zweifeln an der Unbedenklichkeit und kritisieren die Werbestrategien.
Sie sehen gezielte Ansprache junger Menschen, die bisher nie rauchten.
PMI betont, nur Erwachsene anzusprechen und keine Jugend-Idole zu nutzen.
BAT und JTI versichern, ihre Influencer sorgfältig auszuwählen.
Epidemiologe Silvano Gallus beobachtete auffällige Werbeaktionen in Mailand und Nagoya.
2019 stoppte PMI eine Kampagne, nachdem sie mit einer 21-jährigen Influencerin in die Kritik geriet.
Gallus verweist auf Studien in Italien, laut denen besonders viele Jugendliche zu erhitztem Tabak greifen.
PMI hingegen zitiert eine staatliche Studie aus Japan mit unter 2 % Jugendnutzung.

Einstieg in die Sucht: Ein möglicher Weg zur Zigarette

2024 veröffentlichte Gallus eine Studie mit 3.000 Italienern, beobachtet über sechs Monate.
Demnach begannen Nichtraucher, die erhitzten Tabak nutzten, sechsmal häufiger mit dem Rauchen.
Er sieht darin den Beweis für das Suchtpotenzial dieser Produkte.
PMI kritisiert die Studie wegen ihrer geringen Fallzahl und der Pandemieumstände.
Trotzdem warnt Gallus: Erhitzter Tabak unterwandere Rauchentwöhnung und ziehe junge Menschen gezielt an.

Shows, Mode und Musik als Marketinginstrumente

Werbung tauchte weltweit auf Festivals und bei Designmarken auf.
Ein WHO-Bericht von 2023 kritisierte den jugendlichen Stil und die irreführenden Aussagen.
Auf Plattformen wie Instagram und YouTube erscheinen die Produkte als Lifestyle-Gadgets.
Die Universität Rochester zeigte, dass Beiträge mit Models und Luxusambiente besonders erfolgreich waren.
PMI erklärt, nicht auf TikTok aktiv zu sein und bei Events ein Mindestalter des Publikums sicherzustellen.
Laut eigenen Angaben sind 82 % der IQOS-Nutzer über 29 Jahre alt.

Gesundheitliche Folgen bleiben unklar

Langfristige Auswirkungen sind kaum erforscht, da die Produkte noch neu sind.
Die meisten Studien stammen von der Industrie selbst, was Misstrauen weckt.
Manche Untersuchungen sehen Vorteile bei chronischen Lungenleiden, andere warnen vor Gesundheitsgefahren.
2017 widersprachen Schweizer Forscher der Behauptung, IQOS sei rauchfrei.
Sie fanden giftige Stoffe im Dampf, die durch unvollständige Verbrennung entstehen.
Sie forderten, IQOS unter die gleichen Rauchverbote wie Zigaretten zu stellen.

Chemische Belastung durch neue Verbindungen

Chemiker Efthimios Zervas analysiert seit Jahren Tabakdämpfe aus IQOS und ähnlichen Geräten.
Er fand Tausende Substanzen, einige davon sogar in höheren Konzentrationen als bei Zigaretten.
Feinpartikel dringen tief in den Körper ein, warnte er.
PMI bestreitet dies und sagt, IQOS erzeuge keine festen Partikel.
BAT fand über 120 chemische Verbindungen, darunter viele bislang unbekannte.
Die WHO fordert dringend weitere Studien zu diesen Substanzen.

Skepsis trotz offizieller Zulassung

Die FDA genehmigte IQOS, betonte jedoch, es sei nicht als sicher eingestuft.
Sie warnte, es gebe keine harmlosen Tabakprodukte – besonders Jugendliche sollten die Finger davon lassen.
Die Unternehmen räumen ein, dass ihre Produkte Risiken bergen, aber auf vollständigen Umstieg setzten.
PMI sieht darin einen Fortschritt für die globale Gesundheit und seine „rauchfreie Zukunft“.
BAT betont, dass nicht das Nikotin, sondern die Verbrennung am gefährlichsten sei.
JTI erklärt, seine Produkte nicht als Rauchstopp-Hilfen zu bewerben, sondern als Alternative für Raucher.

Kritik an wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit

2024 veröffentlichte die Europäische Gesellschaft für Atemwegserkrankungen ein Papier zu erhitztem Tabak.
Darin hieß es, diese Produkte enthielten weiterhin krebserregende Stoffe und ähnlich viel Nikotin wie Zigaretten.
2022 bewertete die Universität Bath die Studien von PMI als voreingenommen und methodisch schwach.
PMI bezeichnete die Universität als unglaubwürdig, ohne weitere Beweise zu liefern.

Immer neue Produkte, immer neue Sorgen

Die Vielfalt neuer Tabakformen frustriert viele Gesundheitsexperten.
Sandra Mullin von Vital Strategies spricht von einem „Mogelspiel“ mit ständig neuen Produkten.
Sie berichtet von Spielzeug-ähnlichen Geräten in China und fordert mehr unabhängige Daten.
WHO-Experten warnen, dass solche Geräte den Tabakkonsum insgesamt fördern könnten.
Eine britische Studie von 2022 fand keine Belege für eine Rauchentwöhnung durch erhitzten Tabak.
WHO-Daten zeigen, dass viele Nutzer Zigaretten und erhitzten Tabak parallel konsumieren.
Gallus stellte in einer weltweiten Übersicht fest: Zwei Drittel der Nutzer verwenden beides gleichzeitig.

Doppelkonsum als Gesundheitsrisiko

Laut Gallus erhöht der parallele Konsum das Risiko für Krankheiten und frühen Tod.
Forscherin Sophie Braznell von der Universität Bath warnt, die Industrie profitiere doppelt davon.
PMI behauptet hingegen, 72 % der IQOS-Nutzer hätten vollständig vom Rauchen umgestellt.
JTI und BAT reagierten nicht auf Anfragen zum Thema Doppelkonsum.

Die Rückkehr von IQOS nach Amerika

Mit dem Verkaufsstart in Austin, Texas kehrt IQOS in die USA zurück.
Yolonda Richardson von Campaign for Tobacco-Free Kids befürchtet neue Risiken.
Sie verweist auf die Beliebtheit von E-Zigaretten und Nikotinbeuteln unter Jugendlichen.
Sie glaubt, dass sich die Folgen erst in Jahren zeigen und dann schwer zuzuordnen sein werden.
Zervas fordert eine Beweislastumkehr bei neuen Tabakprodukten.
„Bei Lebensmitteln und Medikamenten prüfen wir zuerst – bei Tabak nicht“, kritisiert er.
Die Wissenschaft müsse stets hinterherlaufen, während die Industrie bereits neue Produkte vermarkte.

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